Scapa Flow zur künstlerischen Anschauung gebracht

Die muntere Peilung in Richtung des Unerforschten ist Moritz Götze ebenso eigen, wie sein achtsames Re- flektieren und Anverwandeln von Geschichte inspirierend ist. Dazu gehört vor allem auch, eine der Schönheit zuarbeitende Freiheit zu besitzen, so zu sein, wie der Zeitgeist es gerade nicht will. Aus diesem Querdenken etwas anderes zu machen als das Normierte – das deutet an, dass seine Exkursionen nicht abgeschlossen sind, sie bleiben als offene Rechnungen, denen er sich irgendwann in der Zukunft zuwenden wird.

Große und kleine Unfälle und Auffälligkeiten der Geschichte und Kunstgeschichte nimmt Götze mit Vorliebe in die Mangel und formt sie um zu ästhetischen Modellen. Das allein ist schon ungewöhnlich. Aber noch erstaunlicher ist, wie er Themen zu großräumigen multimedialen Installationen weitet, dass ein Museumsort plötzlich zu einem Ort von mehrdimensionalen Rück- und Ausblicken wird.

Es liegt an Götzes Beschlagenheit und an seinem Mut, auch eine Meinung kundzutun und nicht nur im Nebel der Ereignisse herumzustochern, dass seine Interpretation der Selbstversenkung der Kaiserlichen Hochseeflotte in Scapa Flow eine spannungsvolle Inszenierung geworden ist.

Das Ereignis von Scapa Flow hatte auf den Künstler eine so große Anziehungskraft, dass er bereits 1989 ein erstes Bild malte und von da an diesem Thema treu geblieben ist. Kaum war die Mauer gefallen, hatte sich der in Halle/Saale lebende Künstler auf den Weg in Richtung der südlichen Orkneyinseln gemacht. Es war seine erste Westreise überhaupt. Kriegstechnisch gut informiert durch Fotografien und alte Marinebücher und fasziniert von den surrealen Seiten des Lebens startete er in ein Abenteuer, in dem für ihn Sinn und Geheimnis untrennbar miteinander verknüpft schienen. Ohne das Momentum des Absurden wäre das Leben eine dunkle Nachricht ohne Aussicht auf Licht.

Einen Paukenschlag vollführte Götze 2009, als er im Schlossteich von Neuhardenberg in Brandenburg im Rahmen seiner Preußenbilder-Ausstellung ein großes

Schiffeversenken in Szene setzte und sich mit dem Dramatiker Moritz Rinke in lauschiger Gesprächsrunde über die sonderbare nationale Eigenart der Deutschen, grüblerisch in sich hineinzubohren, austauschte, was anderen Europäern bisweilen als Tugend und psychische Gefährdung zugleich gilt. Im Teich steckten tatsächlich einige 15 Meter hohe Umrisse von Kriegsschiffen, die von der tragisch abgesoffenen militärischen Autorität ebenso kündeten wie von Götzes ironischem Spiel mit der Ikonografie der Macht.

Im Deutschen Marinemuseum in Wilhelmshaven befindet sich in der Mitte des Raumes ein massiver Tisch von 2 mal 4 Metern, dessen 20 Zentimeter dicke Tischplatte aus blauem, durchscheinendem Epoxidharz sage und schreibe 74 Schiffssilhouetten birgt und damit Götzes Anspruch auf fundierte Spekulation unterstreicht, den Ereignissen und Legendenbildungen minutiös auf den Grund gehen zu wollen. Für ihn gilt, sich nicht einer Wahrheit im Singular anvertrauen zu wollen. Das Politische und das Menschliche, Ideologisches und die Gegebenheiten der Präsentation im Museum greifen ineinander. Man muss schon genau hinschauen und vor allem auch darüber nachdenken, wie durch historische Hintergründe und Bewertungen die Bedeutung und Schönheit eines künstlerischen Objekts überhaupt zustande kommen.

Götzes großes Spektakel trifft Aussagen über geschichtliche Ereignisse, über heutige Wertungen dazu, über ästhetisches Erleben und verhilft den Besuchern im besten Fall zu Einsichten, die über herkömmliche Erfahrungen hinausgehen.

Mit diesem heuristischen Mittel kombiniert er Objekte mit Bildern mit technischen Geräten. Man kann Dinge anschauen, berühren und betätigen, etwa einen Plattenspieler, für den eine einzige Schallplatte produziert wurde, die einen spacig driftenden Sound von Andreas Gerth und DRIFTMACHINE feat. Philipp Rücker enthält und die man am besten unter Kopfhörern erlebt. Man wird umhüllt von unheimlichen Unterwasserklängen, Schiffssirenen, Detonationen, Metallgeräuschen, einer geisterhaften Industrial-Atmosphäre, in die sich eine Saxofon-Passage einschmuggelt. Der Solist spielt die zauberhafte schottische Melodie „Pauin“ aus dem 17. Jahrhundert, geschrieben von Captain Tobias Hume (1569–1645), der Söldner, Seefahrer und Komponist war. Das klingt so wehmütig und geheimnisvoll, als ob sich die Toten und die Lebenden drahtlose Nachrichten durch die Fluten schickten. Eine lärmende englische Schulklasse auf einem Ausflugsdampfer wird Zeuge des grauenerregenden Untergangs.

Emaille-Tafeln mit kunsthistorischen Bezügen, ihre Hintergründe mit Platinfarbe effektvoll gehöht, zeigen maritime Ereignisse (eine Schiffstaufe, den Schornstein des Schlachtkreuzers SMS Hindenburg und das Auslaufen der Flotte aus Wilhelmshaven). 15 Briefmarkenmotive in mittelgroßen Bildformaten, ebenfalls aus Emaille gefertigt, erzeugen eine produktive Verstehensirritation, weil sie nicht Vergrößerungen von Originalen sind, sondern freie Kompositionen von Götze, in die er etwa die geschwungene Rahmenornamentik deutscher Kolonialmarken in Kombination mit den versenkten Schiffskörpern einmontiert hat.

Eine herausragende Rolle in Moritz Götzes Bildkosmos spielt Preußen.
Preußen ging mehrfach unter und erstarkte dennoch wieder. Götze baut als Symbol der Überwindung der Erdenschwere und anderer realer Bindungen und Hemmnisse einen Ikarus samt Absturz und Untergang in seinen Parcour.

Nach der Niederlage 1806 gegen Napoleon nahm Preußen, durch ein gewaltiges Reformwerk fundamental verändert, noch einmal Gestalt an, bevor es zahlreiche Kriege später von den Siegern des letzten 1947 von der Landkarte getilgt wurde.

Bertolt Brechts Sentenz kommt einem in den Sinn: „Das große Carthago führte drei Kriege. Es war noch mächtig nach dem ersten, noch bewohnbar nach dem zweiten. Es war nicht mehr auffindbar nach dem dritten.“

Am unteren Bildrand steigt Götzes Mirakel auf, in den Augenschein kommt Scapa Flow. Diese Dinge sind im besten Sinne echt, durchwirkt von Erkenntnisdrang, ohne irgendeine besserwisserische akademische Attitüde.
Wir sehen ein Sammelsurium von Einzeldarstellungen, einen Schriftzug aus Glühbirnen wie aus einer Hafenbar, einen Flipper, den man spielen kann und der per Zufallsgenerator entsprechende Wandelemente optisch und akustisch animiert, ein jonglierendes Mädchen, Zirkusprinzessin aller Geschicklichkeitsspiele am Rande unseres Sehfeldes, das erweitert werden will.

Aber mit schöner Radikalität hat Moritz Götze jenseits historischer Festfügungen ein Angebot zum Anders-Sehen eingerichtet – mit Leuchtkästen, Spulentonbandgeräten (die Schiffsmotorengeräusche wiedergeben), Super-8-Filmprojektoren, einem Schiffsmodell, einer historischen Uniform, einem Porträt von Großadmiral Alfred von Tirpitz, dem Vordenker der Seerüstung („Tirpitz-Plan“), einer neckischen Werbung für eine „Sektsteuer“ (die ab 1902 zunächst erhoben wurde, um die Kriegsflotte Kaiser Wilhelms II. zu finanzieren) und Artefakten, die sich schräg zur homogenen Perspektive verhalten.

Das wirkt heiter geschichtsgesättigt, ein bisschen wie eine Polit-Oper, in der angeträllert wird gegen die etablierten Interpretationsschemata. Götze ordnet anders an, er verknüpft anders und überraschend wird klar, wie viel die Vergangenheit mit unserer Gegenwart zu tun hat, wie sich Antipathien und Sympathien zwischen den Völkern aufbauen.

Ein Loblied auf den deutschen Pazifismus mag Moritz Götze angesichts der Tragik in Scapa Flow nicht anstimmen. Eine Position gilt heutzutage als „pazifistisch“, wenn sie sich ein nicht bewaffnetes Deutschland wünscht. Pazifisten spielten im intellektuellen Milieu der Bundesrepublik Deutschland der 1980er Jahre eine gewisse Rolle, ohne aber die Mehrheitskultur ernsthaft beeinflussen zu können. Dennoch – bis heute hadert das neue Deutschland mit seiner Rolle in der Welt.

Schwarz, Rot, Gold Siebdruck, 2016

Götze kommt weder aus der westdeutschen Friedensbewegung, noch hat er mit ihrem ostdeutschen Pendant sympathisiert. Aus vorgeschobenen gesundheitlichen Gründen konnte er einen Aufschub der Einberufung zum Militär im November 1989 erreichen. Durch den Zusammenbruch der DDR war er dem Soldatenleben dann endgültig entkommen.

Heldentum, Tapferkeit oder sonstige Pseudotugenden des Militärs, soldatische Alphatiere, Militaristen am Rande des Größenwahns, Arroganz – das sind Kategorien, mit denen er nichts am Hut hat. Er versucht etwas zu wagen im Feld der Kunst.
Seine Darstellungen von Autoritäten sind stets mit Mit- teln des Pop gebrochen. Es ist der Sinn seiner Kunst, ihre Gegenstände ordentlich durch die Farbe zu ziehen. Das sind seine Strategien, um das Unerwartbare im Er- warteten aufscheinen zu lassen, das Befremdliche im Vertrauten.

Götze lässt sich auf das Kriegsspiel eben nicht ein wie Ernst Jünger, ein Spiel, das sich vollkommen von der normalen Welt und ihren Werten abkoppelt und nach eigenen Regeln funktioniert. Götze spielt und staunt, aber ohne tödlichen Ernst. Seine Installation bleibt im bunten Feld der Kunst, das sich der Konsequenz des blutigen männlichen Ernstes entzieht.

Heute haben wir es mit einer veränderten deutschen Lage zu tun, die sich beschreiben lässt als Summe von Indifferenz, Verweigerung und Distanzierung. Quer dazu verläuft eine zaghafte Debatte um die Rolle deutscher Streitkräfte in internationalen Konflikten, eine Debatte, die die Verquerungen der deutschen Geschichte, ihre antizipierten Belastungen und auch ihre mangelnde au- ßenpolitische Professionalität ausdrückt.

Mit seinem achtsamen Kunstkonzept, das historische und Popkompetenz beweist, unterstreicht Götze die Erfahrung, dass die Welt von Frieden und Krieg, die Aspekte des Schönen und des Erschreckenden, geheimnisreicher und vielschichtiger sind, als es dem Durchschnittsverstand erscheint. Ob das Militärische einen Erkenntnisstimulus darstellt, vermag nicht die Kunst zu entscheiden.

SCHÖNHEIT & UNTERGANG Öl auf Leinwand, 2018

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Paul Müller-Kaempff auf dem Bakelberg, Ahrenshoop

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Versunkene Vergangenheit – und doch meine Gegenwart